4. Tor Klagegesang

4. Tor Klagegesang

Betrauere deine Verluste, nimm das Leid der Veränderung um dich herum wahr. Jammere, wüte und klage in allen Tonlagen. Hab Mitgefühl mit dir selbst und allen, denen es genauso geht. Gestalte deinen Schmerz, singe, male, schreib auf – und teile ihn mit anderen. Stimme deinen eigenen Klagegesang an.

Sabine (55)

Wogender Regen

Seit Samstag bin ich in diesem stillen Haus. Die Stille nimmt sich meiner an, meiner unruhigen Seele. Ich bin krank und habe alles, wirklich alles abgesagt. Fast zehn Anrufe. Es hat mich zwei Tage gekostet, bis ich akzeptiert habe, dass ich nicht nach Worms fahren und an der Fortbildung teilnehmen kann. Mirja ist auf Klassenreise. Sie fehlt mir. Ich bin allein seit Tagen. Aber eigentlich ist das nicht schlimm. Nur dieser unaufhörliche Regen, er klatscht gegen das Wintergartendach, er lässt die Regentonne überlaufen, ein unaufhörlicher Wasserstrom weicht alles auf.
Dass ich am Freitag Norbert an der S-Bahn habe warten sehen! Fast wäre es mir gelungen, an ihm vorbeizugehen, aber er hatte mich gesehen und starrte mich an, so wie ich ihn anstarrte: „noch einmal“, murmelte er. Ich ging dann zu ihm mit meiner weißen Tüte, fühlte mich unendlich müde und schrecklich traurig, aber das sah man unter der dicken Mütze nicht. Ich trat auf ihn zu und er beugte sich vor und gab mir einen unrasierten Kuss auf die Wange, er ließ sich wieder mal einen Bart wachsen. Er wirkte schmal und unbedeutend, blass, eher unwichtig. Ich fragte ihn, auf wen er warte, ich wusste die Antwort ja schon. Ein Zögern, „auf Franziska“. Dem Namen nach eine junge Frau, sie würde nicht älter als dreißig sein…egal. „Na dann, noch viel Spaß“, wünschte ich und ging an ihm vorüber. Den Polo erreichte ich wie ein schützendes Schiff, aber der sprang nicht an! Ich weinte, versuchte meine Fassung wieder zu finden und musste schließlich kapitulieren und mit dem Bus nachhause fahren.
In der darauf folgenden Nacht, nach dem Fest bei Mona, nach Uwes glücklichem Versuch, den Polo flott zu machen, nach dem Sekt, der mir die Zunge löste, nach dem Tanzen nachts um drei so laut und schön – fiel ich tief, tief …
Ich glaube, da brach im Traum dieser Schmerz der Eifersucht auf, den ich so gut kenne, der schlimmste Schmerz in meinem Leben. Ich könnte sie alle aufzählen, immer dieser schneidende Schmerz, der mich wild und halb ohnmächtig zugleich werden ließ. Manchmal machte ich etwas kaputt, meistens aber brach ich zusammen, für länger, innerlich tot, verloren, vergessen von der wirklichen Welt.
Ja, eine Herausforderung, wenn diese Wunde plötzlich aufbricht, das Herz aufstöhnt unter all den nie vergessenen Stichen, schneidend, unversöhnt, ungeliebt.
Schmerz meiner Kindheit und Jugend, den ich hinter mir lassen möchte, denn es ist blinde Gier, blindes kindlich gekränktes Ego ohne Zukunft, nur gefangen in dieser endlosen Klage. Wie schön es gewesen wäre, morgen loszuziehen in etwas Neues, es war mir nicht gegönnt. Trauer, das Band der Sehnsucht hatte ich an Brigids Fest losgelassen, eine feine geflochtene silberne Schnur, die uns verband. Sie hängt jetzt herab an mir, wie eine zerrissene Nabelschnur. Wer weiß, mit was oder wem sie mich verbunden hat, aber das ist vorbei.
Die Tage, in denen ich mich verwandele. Der Stille lauschen. Da ist keine Sehnsucht und auch kein Zurückblicken, da ist nur schwarze Leere. Oder wogender Regen, der das Zimmer verdunkelt den ganzen Tag, der gegen die Bäume und das Fenster schlägt. Der Same, der sich in der Erde vollsaugt mit all dem strömendem Nass.
Etwas lebt und ich bin ein Teil davon. Die Alte, die mir aus der Ferne zuwinkt.