Leila (49)
Geisterkanu
Eine junge Frau in einem reich bestickten Lederkleid steht am Pazifikstrand von Vancouver Island. Über ihren Rücken fällt ein schwarzer, mit bunten Bändern geflochtener Zopf. Seit Stunden schon schaut sie aufs Meer, weit, kein Horizont. Die unruhigen hohen Wellen, die sich am Ufer brechen, in dunstiges Morgenlicht getaucht.
Als die Sonne hoch steht, schiebt sie ihr bemaltes und mit Blumen geschmücktes Kanu ins Wasser, steigt ein und paddelt langsam auf die Brandungswellen zu.
Das Kanu ist ein Geisterkanu.
Sie wartet geduldig vor dem Wellenkamm. Immer und immer wieder brechen sie mit ungeheurem Getöse auf das Land. Manchmal nebeln sie Gischtböen ein, manchmal wird sie von einer besonders hohe Welle überflutet. Sie manövriert das Kanu hin und her und wartet. Der Tag neigt sich, die Möwen stürzen sich kreischend auf die fliegende Fische. Mit einem Mal richtet sie sich auf: Sie spürt das Tor, das sich in diesem Moment öffnet und steuert zielsicher auf einen sich auftürmenden Wellenberg zu. Wasserberge, Wirbel, gurgelnder Druck. Das Kanu kippt, sie wird unter Wasser gedrückt, schreit, den Mund schon voller Meerwasser – und lässt sich mit dem Strudel nach unten ziehen. Taucht nach einer Ewigkeit hinter der Brandungslinie wieder auf, zieht sich keuchend ins Boot.
Die Sonne geht unter, leuchtende Farben ergießen sich in langen Bändern über den Himmel. Das Wasser um das Kanu herum brodelt. Wale, Ottern, Delfine umdrängen das Boot. Fontänen, Spritzer von springenden Fischen, knarrende Rufe. Sie sitzt ganz still im tanzenden Kanu, das Gesicht zur sinkenden Sonne gewandt, zum aufsteigenden neuen Mond. Ihr Zopf ist silbern geworden.
Die Quelle
Eine Kirche, eine große Kirche, vielleicht sogar ein Dom. Im Untergeschoss unter der Erde befindet sich die Krypta. Wie üblich in diesen Kellergewölben sind dort die Oberhäupter der Vergangenheit aufgebahrt und dort zerfallen ungestört ihre Knochen zu Staub. Darunter geht es noch weiter: eine zugemauerte Tür verbirgt eine Treppe, die tiefer ins Erdreich führt. Mit der Zeit entstehen Lücken in dem wurmzerfressenen Türrahmen, es öffnet sich ein schmaler Zugang zur Treppe. Aber nie wird sie benutzt, und keiner weiß von ihrer Existenz.
Die Treppe führt zu einer verschütteten, zugemauerten Quelle. Wann wurde die Erinnerung an diese heilige Quelle ausgelöscht, wer ließ die Kirche darüber bauen? Das Quellwasser galt einst als heilkräftig. Die Menschen hatten die Quelle mit einer Einfassung aus weißem Stein umbaut. Die Hüterin der Quelle ließ Kranke und Ratsuchende dieses Wassers trinken und versetzte sie in einen tiefen Schlaf. Wenn diese erwachten, fühlten sie sich gestärkt und von den Traumbildern der Nacht angeleitet.
Jetzt aber war dieser Lebensborn verschüttet und vergessen. Eine große Kröte lebt in dieser feuchten Mauer, das Wasser bahnt sich unermüdlich seinen Weg durch die Steine. Schon sickert es in die aufbrechenden Ritzen des alten Gemäuers. Es bilden sich große feuchte Stellen, ein nasser, glitschiger Film, Moose breiten sich aus. Die Kröte ist so alt wie die Quelle. Sie bewacht den Schatz, von dem niemand mehr Kenntnis hat bis zu dem Tag, an dem ein Mensch sie wieder entdecken und ihre Heilkraft erkennen und verehren würde.
Eines Tages spielt ein kleines Mädchen, dessen Eltern dem Gottesdienst zuhören, in der Krypta mit einem Ball. Das darf es natürlich nicht, aber das hat es vergessen. Ihr Ball fällt durch die Ritze der verfallenen Tür die Treppe hinunter, sie läuft hinterher, die Stufen hinunter. Als sie unten ankommt und den Ball sucht, trifft sie auf die Kröte, die auf sie zu warten scheint. Das Mädchen hockt sich zu ihr und freut sich, ein Lebewesen hier unten in diesem düsteren Raum anzutreffen, an dessen Wände das Wasser unaufhörlich herabtropft. Sie streichelt vorsichtig die runzelige Haut und fragt: „Wer bist denn du? Was machst du hier? Hast du meinen Ball gesehen?“
Die Kröte hält still unter der Liebkosung des Mädchens, dann kriecht sie in eine Ecke zur Wand, hinter der leise die Quelle sprudelt. Das Mädchen läuft ihr hinterher, rutscht auf einem Stein aus und fällt hin. Sie hat sich am Kopf verletzt und liegt bewusstlos in den großen nassen Rinnsalen am Boden.
Ihre Eltern suchen sie, auch viele andere Menschen starteten Suchaktionen. Sie finden sie nicht.
Nach einer sehr langen Zeit erwacht die junge Frau, zu der sie sich im Schlaf entwickelt hat und steigt die Treppe wieder hoch. Die Kröte hatte die ganze Zeit Wache bei ihr gehalten. Als sie wieder in das Reich der Menschen zurückkehrt, ist ein Menschenzeitalter vergangen. Ihre Eltern waren alt geworden und schließlich an gebrochenem Herzen gestorben. Auch keine ihrer Kinderfreundinnen sind noch am Leben. Niemand erkennt sie. Sie jedoch hatte in ihrem langen Schlaf das Geheimnis der Quelle entdeckt. Sie findet Wege, deren Heilkraft für andere Menschen wieder zugänglich zu machen. So wird sie zur neuen Hüterin der Quelle.
Verwandlung und Aufgabe
Ich bin die Quelle und ihre Wächterin zugleich. Ich bin das darüber gebauten erstickenden dicke Gebäude der Vorschriften und des Todes, aller Erotik und Lebendigkeit beraubt. Ich bin diejenige, die diese Quelle selbst zugemauert hat! Und ich bin auch der Verfall, die Risse, das Durchsickern des Heilwassers. Ich bin das kleine, liebende Mädchen, das spielt und im Spiel auf die Kröte trifft. Ich bin die, die fällt und verletzt in tiefen Schlaf sinkt.Eines Tages erwache ich. Gereift und bereit steige ich die Treppe hinauf in die Welt und trage mein Geheimnis ins Licht. Ich teile meinen Schatz mit den Menschen.